Überwintern

Am Abend im Bett habe ich in den letzten Tagen vorm Schlafengehen noch in dem Buch „Überwintern – Wenn das Leben innehält“ gelesen. Es liest sich leicht und gut, feine Bettlektüre.
 
Eine Frage, die ich mir bereits am Anfang der Lektüre gestellt habe, Wer trägt unsere Winterphasen?, blieb bisher im Buch noch unbeantwortet. Aber das war natürlich auch nicht Ziel des Buches. Es hat mich aber angeregt, selbst etwas darüber nachzudenken.
 
Die Autorin hat eine Auszeit von ihrem Job, weil sie krank geschrieben ist. Und kämpft damit, sich einzugestehen, dass sie diese Pause braucht. Kommt mir bekannt vor. Die Fragen sind die gleichen: Was denken die anderen von mir. Wer bin ich, wenn ich mich nicht über Leistung definiere. Wer bin ich, wenn ich keinen Beitrag zum Wohle der Gesellschaft leiste? 
 
Ein Kapitel hat besonders in mir angeklungen. Die Autorin erzählt von ihrem Sohn, der Schulangst entwickelt hat.
„Manche Winter schleichen sich so langsam an uns heran, dass sie bereits Teile unseres Lebens durchdrungen haben, bevor uns auffällt, dass sie da sind.“
 
Sie zieht sich zur Heilung mit ihrem Sohn zurück. Er geht nicht mehr in die Schule, sie finden andere Wege, ein Lernumfeld zu schaffen, Raum zu finden, wieder Vertrauen zu gewinnen. Sie gehen morgens zur Trampolinhalle und treffen dort Menschen, deren Kinder auch nicht in die Schule gehen. Und schütten einander ihre Herzen aus. Plötzlich ist sie nicht mehr allein. Sie profitiert von denen, die vor ihr den Weg gegangen sind. 
„In diesem unseren Winter ging eine Verwandlung mit uns vor. Wir lasen und arbeiteten und wälzten Probleme und fanden neue Lösungen. Wir richteten den Fokus nicht länger darauf, am Fortsetzen des normalen Lebens festzuhalten, sondern darauf, ein neues Lebensmodell zu entwickeln. Wenn alles in Scherben liegt, kann etwas völlig neues entstehen. Das ist das Geschenk des Winters, und man kann es nicht ausschlagen: Es zieht Veränderungen nach sich, ob es uns gefällt oder nicht. Am Ende tragen wir womöglich ein anderes Fell.“
Warum ich gerade mit diesem Abschnitt so mitgefühlt habe? Nun ja. Weil wir in einer ganz ähnlichen Situation sind. Mit einem Sohn, der gerade nicht zur Schule geht. Einer Tochter, die gerade keine Ausbildung macht. Weil eben beide eine Winterphase haben. Zeit brauchen. 
 
Das System funktioniert aber anderes. Es holt Kinder, die nicht zur Schule gehen notfalls mit der Polizei ab. Einen anderen Weg zu finden kostet viel Kraft, auf allen Seiten. Und auch viel Geld.  Deshalb auch meine Frage, wer unsere Winter trägt? Bei den eigenen Kindern sind es wohl die Eltern, die dafür Verantwortung tragen. Die für ein geeignetes Umfeld sorgen, für Stabilität und Versorgung.
 

Bei Erwachsenen ist es wohl das Umfeld und die Gemeinschaft. Partner*innen, Familie, Gemeinde. Aber auch die soziale Gemeinschaft in Form von Krankengeldern und Fangnetzen. Das ist jedoch oft gar nicht so einfach, weil es nicht vorgesehen ist, Winter zu halten. Es braucht Anträge, Nachweise, Diagnosen, Stempel, Verpflichtungen und Druck. Man kann nicht ohne weiteres Winterschlaf halten bis man wieder auf den Beinen ist. Die Kindergeldkasse will Nachweise, die Schulbehörde auch. Es ist mühsam, sich durch Winter zu hangeln, den eigenen Winter auszuhalten, die Winter der anderen mitzutragen. 

 

Winterwärme aus der Gemeinschaft – Danke!

Ich bin dankbar für unser Netzwerk, den guten Kontakt zur Schule, den Lehrer*innen,  Ärzt*innen und Psycholog*innen, die uns unterstützen und gemeinsam einen gehbaren Weg finden. Sie sind es, die uns helfen, den Winter zu überstehen, Licht zu sehen, wo für uns Schwere und Dunkelheit ist. Sie sind es, die die Fackeln tragen: Formulare ausfüllen und Atteste erwirken um Zeit zu gewinnen, das Leben zu ordnen und das Boot in ruhigere Wasser zu navigieren. Die uns Mut zusprechen, zuhören, geduldig sind und uns den Weg nicht allein gehen lassen. 

Überwintern – Wenn das Leben innehält

Katherine May schreibt in unterhaltsamen und nachvollziehbaren Geschichten über die Zeiten, die schwierig sind im Leben. Sie vergleicht diese schweren Zeiten mit dem Winter, wo Kargheit und Fablosigkeit vorherrschen, aber bei genauerem Hinschauen wichtige Prozesse passieren. Die Autorin nimmt uns mit in kalte Regionen in Skandinavien, wo Kälte und Dunkelheit den Winter bestimmen, zu den Bienenvölkern und den Eisbaderinnen. Und immer wieder auch in ihr eigenes Leben, was ruckelt und Pausen einfordert.

4/5

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6 Kommentare zu „Überwintern“

  1. Wow,Danke genau mein Thema!!!!Und Danke vor allem auch fürs Teilen eures persönlichen Winters gerade🙏💚
    Das Buch werde ich mir schenken;-)

  2. Danke für Deine Offenheit. Dazu passend der Verweis auf ein großartiges Buch, welches mir eine liebe Freundin geschenkt hat: ‚Wenn wir wieder wahrnehmen‘
    Auf die neuen Pfade, die wir im Frühling gehen werden!

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