Schon lange habe ich nicht mehr gelesen. Zwar liegen in meinem Bett ganz viele angefangene Bücher, alles interessante Lektüre, aber irgendwie hat mich keins wirklich mitgerissen. Mein Kopf war zu voll, meine Konzentration zu wenig. Ich kenne das aus der Zeit, als die Kinder noch klein waren. Da war zum Lesen kaum Raum.
Neulich hat mich dann aber doch ein Buch gepackt. Ich habe gelesen bis Mitternacht, weit über meine Schlafenszeit hinaus. Drei Tage kann man das schon mal machen. Und welches Buch ist es, wo ich so drin versunken bin? „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Daniela Krien. Die Autorin hat mir schon mit „Muldental“ gefallen. Nicht nur, weil das Muldental meine Kindheitsheimat ist.
Auch dieser Roman spielt um die Wende herum in der ehemaligen DDR. Das politische Drumherum und die Beschreibungen der zerfallenden DDR holen mich zurück in meine Kindheit/Jugend. Wie es war, 1989/1990, als sich das Land in dem ich groß geworden bin, auflöste. Da war ich 13. In meinem Tagebuch steht aus dieser Zeit:
„Seit der Wende fällt es mir schwer hier zu leben. (…) Es ist nun mal schwer, sich umzugewöhnen. Es ist nicht leicht, sich hier überhaupt noch zurecht zu finden. Die Welt ist eben verrückt.“
Badetag, Waschhaus und Pionierlieder
Ich lese also im Buch: „Der alte Badeofen und die Wanne, in der wir jeden Freitagabend nacheinander gebadet haben, werden rausgerissen.“ und denke an unseren Badeofen im Keller des Hauses meiner Eltern, der auch einmal am Ende der Woche geheizt wurde. Eine Stunde vorher musste man mit dem Anheizen beginnen, regelmässig Kohle nachlegen bis der Kessel bis oben hin warm war. Dann konnten wir die tiefe Wanne einlassen. Wir drei Geschwister badeten zusammen. Es gab gern Streit darüber, wer auf dem Stöpsel sitzen muss und wer am anderen der Wanne sein darf. Nach uns Kindern nutze mein Vater unser Badewasser. Später, als wir älter wurden durften wir alleine baden. Dann mussten wir nach dem Bad, schön sauber wie wir waren, wieder Kohlen für den Nachfolger nachlegen. Das mochte ich nicht gern, weil dann meine frisch gewaschenen Hände wieder schmutzig wurden.
Und vom Waschhaus wird erzählt. So eins gab es bei uns auch. Wir trugen die Wäsche aus der Waschmaschine, die nicht schleudern konnte, zur Wäscheschleuder im Waschhaus. Das Gerät stand frei und auf einem Gummiring. Nun galt es zu beachten, die Schleuder gleichmässig zu beladen, damit sie nicht durch die Unwucht ins Schlingern gerät. Schleuder voll, Deckel zu, Bügel drüber und los gehts. Das freigeschleuderte Wasser floss durch einen kurzen Schlauch in einen Eimer unter der Schleuder und wurde später ausgeleert. Dann konnte die Wäsche aufgehangen werden. Schleudern mochte ich so mittelgern. Das hat so in den Armen vibriert. Ein kleiner Sieg, wenn die Wäsche so gut drin lag, dass sie nicht ins Schlingern geriet.
Und so kommen Seite für Seite beim Lesen Erinnerungen hoch. Beim Liedtext von „Pioniere voran“ singe ich im Kopf sogar die Melodie mit. Ich kenne den Text und kann ihn mitsingen, höre beim „Seid bereit!“ den Antwortchor „Immer bereit!“ in meinem Kopf. Sehe den Trabant innerlich vor mir und weiss, welche Geräusche er gemacht hat. Eine der Figuren im Buch schaut sich eine Kunsthochschule in Leipzig an. Das muss die Hochschule für Grafik und Buchkunst sein. Dort habe ich mich auch für ein Studium beworben (habe es aber nicht durch die Eignungsprüfung/Aufnahmegespräche geschafft). Ich könnte weiter und weiter erzählen. Ganz viel Geschichte und Vergangenheit ist in den Roman eingewoben.
Von Liebe, Lügen und Geheimnissen
Der Roman gefällt mir aber nicht nur wegen des erzählerischen Rahmens, sondern auch die Geschichte und Handlung mag ich sehr. Maria, 16 Jahre alte, ist von zu Hause weggegangen, um auf dem Hof der Eltern ihres Freundes zu leben. Sie verbringt die Tage durch Mithilfe in der Familie, taucht in ihre Bücher ab und geht nicht zu Schule. Auf dem Nachbarhof lebt ein Mann, der könnte ihr Vater sein. Mit ihm beginnt sie eine Affäre. Eine emotionale Achterbahn und ein Lügengerüst beginnen. Maria wandert zwischen den Höfen, führt zwei Leben bis sie eine Entscheidung trifft.
Ein schönes Buch zwischen Alltag und Poesie, Liebe, Sehnsucht und Verlangen. Geschichte, Dorftratsch und Familiendynamiken. Liest sich leicht und hat mich berührt.
Danke, liebe J., für den Buchschatz und diese grandiose Idee der Privatbibliothek. Diese Geste wärmt mich immer noch und immer wieder!
Ich hab dieses Buch auch sehr gern gelesen.
Und mir geht es heute noch so, dass ich manchmal grosse Sehnsucht nach der DDR habe. Nach der Überschaubarkeit, dem ,Wir sind für die Sache‘ Gefühl und der ganzen kindlichen Hoffnung die da mitschwang.
Diese Wehmut überfällt mich manchmal wie aus dem Nichts. Da reicht schon ein bestimmter Geruch…
Ein ähnlich starkes Buch ist ‚was uns erinnern lässt‘ von Kathi Naumann.
Das konnte ich auch nicht aus der Hand legen.